Sonntag, 31. Oktober 2010

Volkszählung 2010: Ganz schön viele, und plötzlich ein Großer weniger

"Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde." So beginnt eine recht bekannte Geschichte über eine Volkszählung, die jedes Jahr wieder etwa um die gleiche Zeit sehr populär wird. Hier war es am letzten Mittwoch, dem 27.10.2010 ähnlich, nur dass es Königin Cristina war, die zur Zählung rief.
2010 ist ein großes Jahr für das argentinische Volk: 200 Jahr-Feier "El Bicentenario", 10. große Volkszählung (Censo), die nur alle 10 Jahre stattfindet und ein glanzloser Untergang bei der Fußball-WM. Den Censo muss man nun aber mal genauer betrachten, denn gerade in einem Land wie Argentinien, achtgrößter Staat der Erde mit gerade mal der Hälfte der Bevölkerung Deutschlands (ca. 40 Mio.), ist das ein spannendes Unterfangen. Zunächst nochmal zur Erinnerung: Hier kann man jeden (!) Tag im Jahr einkaufen, samstags, sonntags, feiertags, meistens bis 22 Uhr in den großen Shopping Centers. Nicht so am 27.10.10. Man hat zuhause zu bleiben, bis ein Censor geklopft und seine Fragen gestellt hat. Keine Läden haben geöffnet, keine Kinos, keine Veranstaltungen, keine Restaurants, dafür wurde extra ein Dekret verabschiedet, dass den Tag zum nationalen Feiertag macht. Der Argentinier hat quasi Hausarrest von 8:00 - 20:00, bis er gezählt und dokumentiert wurde.
Dieser gewaltige staatliche Kraftakt kostet Zeit und ein Vermögen. Rund 650.000 Censoren sind im ganzen Land mit ihren Fragebögen unterwegs, in den Städten, auf dem Land, in den Baracken- und Armenvierteln. Die Fragebögen werden hinterher von Computern ausgelesen und verwertet. Auf das Ergebnis darf man gespannt sein. Die Kosten wurden seinerseits mit 303 Mio Pesos veranschlagt, leider hatte man sich dabei empfindlich um 72% verkalkuliert, und somit schlägt der Censo 2010 nun mit ca. 520 Mio Peso zu Buche, rund 100 Mio Euro. "Censiert" werden Haushalte und Personen, das heißt ein Ehepaar bekommt einmal gemeinsam Fragen zum Haushalt gestellt und danach jeder einzelne noch persönliche Fragen. Nicht erfragt werden Nachnamen, Einkommen oder Dokumente. Hier nun ein paar Beispiele aus den offiziellen Fragebögen 2010:
  • Können Sie lesen und schreiben?
  • Aus welchem Material besteht ihr Fußboden?
    • Keramik, Fliesen, Mosaik, Holz oder Teppich?
    • Zement oder befestige Backsteine?
    • Erde oder lose Backsteine?
    • anderes?
  • Das Wasser beziehen Sie aus...
    • dem öffentlichen Wassernetz?
    • einem Brunnen mit motorisierter Pumpe?
    • einem Brunnen mit Handpumpe?
    • einer Grube?
    • einem Tankwagen?
    • der Regentonne, einem Fluss, Kanal oder Bach?
  • Hat der Haushalt eine Toilette?
  • Falls ja, hat die Toilette eine Spülung per Knopfdruck oder Kettenzug?
  • Der Haushalt besitzt:
    • einen Computer?
    • einen Kühlschrank?
  • und viele weitere Fragen zu Alter, Geschlecht, Bildung, Herkunft, Beruf, Gesundheit, etc.
    Den kompletten Fragebogen (auf Spanisch natürlich) gibt es hier: Klick!
Manchmal schmunzelt man beim Lesen der Fragen, manchmal wird man nachdenklich. Und es gibt eine Menge Menschen, die geantwortet haben werden, dass ihr Dach hauptsächlich aus Pappe besteht. Wir haben unsere Fragen brav beantwortet und sind nun Teil der argentinischen Bevölkerung. Die Auswertung der 172 Mio Papierseiten dürfte trotz Maschinenlesbarkeit etwas dauern.

Eigentlich wäre der Censo noch bis Mittwoch 23:00 weiter gegangen, aber ein erschütterndes Ereignis überschattete den Tag: Der Tod des Ex-Präsidenten  (2003-2007) Néstor Kirchner, mächtigster Politiker des Landes und Ehemann der aktuellen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner. Morgens um kurz nach 8 Uhr befand sich Argentinien in Schockstarre, alle Sender haben nur noch Bilder von Kirchner gezeigt. Er erlag mit 60 Jahren einem Herzinfarkt, wurde allein dieses Jahr zwei Mal am Herzen operiert. Argentinien trauert um einen Helden des "Peronismus". Jedenfalls glaubt man das ersteinmal, wenn man den Fernseher einschaltet oder die hiesigen Zeitungen durchblättert. Aber wie es beim Thema Politik immer ist, gibt es auch viele andere Stimmen, die von der endgültigen Befreiung vom "Kirchnerismo", vom korrupten Terroristen Kirchner sprechen. Einen Tag später wurde ich auf der Arbeit von einem argentinischen Kollegen gefragt, was ich vom Tod von Kirchner halte. Ich habe gesagt, dass ein plötzlicher Todesfall generell zu bedauern ist, und dass ich mich zu mehr nicht äußern kann und will, da ich mich nach etwas über einem Jahr Aufenthalt in Argentinien nicht in der Lage sehe, die Politik dieses Landes zu beurteilen, und deswegen lieber garnichts sage, bevor ich jemandem zu nahe trete. Das hätte wohl ebenfalls von einem Politiker stammen können.  Es ist übrigens auch die beste Art sich rauszureden, wenn man von Kollegen oder Geschäftspartnern oder sei es auch nur vom Taxifahrer zur Politik Argentiniens befragt wird.
Kirchner wurde im Regierungsgebäude aufgebahrt und tausende Argentinier nahmen Abschied. Auf der Plaza de Mayo vor dem Präsidentinnenpalast wurde heftig demonstriert und verabschiedet. Argentinien ist für einen Moment führungslos. Wer glaubt, dass die Präsidentin das Land führt, glaubt auch, dass ein Zitronenfalter Zitronen faltet. ER war der starke Mann in ihrem Rücken, ER hat praktisch alle politischen Entscheidungen gefällt. Ob gut oder schlecht, will ich hier nicht bewerten. Sehr wahrscheinlich wäre er 2011 wieder Präsident geworden. Nun kann man nur hoffen, dass Cristina gute Berater hat.